Selbstmitgefühl und Scham – zwei starke Gefühle – zwei Gegensätze

Die Polaritäten der Gefühle

Gerade habe ich einen Artikel gelesen, in welchem es um Selbstmitgefühl geht. Chris Germer ist klinischer Psychologe, der sich auf achtsamkeitsbasierte Behandlung spezialisiert hat. Er entdeckte durch seine eigene Störung, dass seine Scham vor vielen Leuten zu sprechen durch das Einüben von Selbstmitgefühl nachließ. Empirisch bedeutet dies, dass Scham und Selbstmitgefühl entgegengesetzte Pole sind. Besonders deutlich wird dies in der folgenden Beschreibung:

Christ Germer stellte drei Schlüsselmerkmale von Scham heraus:

Selbstkritik  –   Isolation  –   Absorption

Selbstmitgefühl hat hierzu entgegengesetzt die drei Merkmale:

Selbstfreundlichkeit – geteilte Menschlichkeit – Achtsamkeit

Selbstkritik in erhöhtem Maße kann ein Risikofaktor für Depressionen, soziale Ängste, Ess- und Persönlichkeitsstörungen sein. Starke Scham und die daraus resultierende Selbstkritik bewirkt, dass sich die Klienten und Klientinnen stark abwerten. Diese Abwertung, also das Gefühl weniger wert zu sein als andere, erzeugt weiter ein Gefühl von Macht- und Wertlosigkeit. Grübeleien und weitere Verurteilungen halten den Kreislauf in Gang.
Selbstfreundlichkeit und Achtsamkeit hinsichtlich der eigenen Gedanken und Gefühle verstärkt hingegen das Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit. In Verbindung mit weiteren Faktoren kann es meiner persönlichen Erfahrung nach, den oben angeführten Krankheiten vorbeugen oder sie abmildern.

 

Kontrolle bewahren durch Abwertung

Ich habe mich sowohl mit Scham (auch mit meiner eigenen), als auch mit Selbstmitgefühl viel beschäftigt, doch der Zusammenhang von Polarität war mir vorher nicht bewusst. Es war wie ein „Aha“ – Erlebnis. Dabei ist es so logisch. Wenn wir uns schämen machen wir uns innerlich oft klein. Sätze wie „Du bist selbst schuld“, “ Du hast es nicht besser verdient“, oder „Du bist einfach zu blöd“ sagen wir uns dann oft selbst und sind ständige Begleiter. Diese Sätze entstehen meistens in der Kindheit. Wenn wir traumatische Erfahrungen gemacht haben und nicht die wohltuende Aufmerksamkeit bekommen haben, die uns gut getan hätte, versuchen wir als Kinder die Kontrolle zu wahren. Machen wir uns selbst dafür verantwortlich was passiert ist, fühlen wir uns zwar schlecht, haben aber das Gefühl es selbst mit verursacht zu haben. Das ist manchmal leichter auszuhalten als die Vorstellung, dass Vieles einfach außerhalb unserer Kontrolle liegt. Insbesondere dann wenn wir als Kind nicht den Rückhalt bei unseren Bezugspersonen finden, den wir gebraucht hätten.

 

Schrittweise ins Selbstmitgefühl

Die Praxis des Selbstmitgefühls ist sehr alt und ein wesentlicher Bestandteil der buddhistischen Praxis. Zwischen sich selbst und anderen Wesen wird kein Unterschied gemacht. Wir haben unser Mitgefühl selbst genauso verdient wie andere Menschen. In meiner Praxis arbeite ich mit Klienten auch daran Selbstmitgefühl für sich zu entwickeln. Die Arbeit mit dem“ Inneren Kind “ ist dafür oftmals hilfreich. Es gibt auch andere Übungen, welche auf Achtsamkeit sich selbst gegenüber basieren. In einem gesonderten Blog Beitrag werde ich noch eine konkrete Übung hierzu vorstellen.
Es ist wichtig, dass Übung in Selbstmitgefühl schrittweise erfolgt. Wenn Widerstände gegen die Zuwendung zu sich selbst auftreten, haben diese ihre Berechtigung. Öffnet sich unser Herz unter der liebevollen Annahme, öffnet sich auch der Raum zu alten, schmerzlichen Gefühlen. Gefühle, die damals wahrscheinlich keinen Raum bekommen haben. Wut, Trauer und Hilflosigkeit darüber, dass wir nicht das bekommen haben was wir gebraucht hätten oder grob und unsensibel behandelt wurden.  Deswegen tasten wir uns im therapeutischen Prozess langsam heran, so dass Mitgefühl erlebt werden kann und gleichzeitig die unangenehmen Gefühle gehalten werden können.

 

Die „Wilde Seite“ des Selbstmitgefühls

Selbstmitgefühl hat aber nicht nur eine sanfte Seite. Kristin Neff beschreibt dies sehr eindrücklich in ihrem Buch „Kraftvolles Selbstmitgefühl für Frauen“. Es gibt also auch eine wilde Seite. Wenn wir Grenzen setzen gegenüber anderen Menschen oder auch uns selbst Einhalt gebieten müssen, tritt diese Kraft in den Vordergrund. Jeden Tag Baguette mit Nutella zu essen wäre wahrscheinlich ungesund auf Dauer. Daher müssen wir uns selbst manchmal begrenzen. Ein „Jetzt ist es genug“ kann sehr mitfühlend sein. Ich durfte dies auch schon von einer Klientin lernen. Sie verstrickte sich unter bestimmten Umständen in Grübeleien und konnte kaum damit aufhören. Ich fing an mit ihr am Selbstmitgefühl zu arbeiten und Verständnis für sich aufzubringen. Sie fand für sich heraus, dass ein „Jetzt hör aber auf damit und mach was Schönes!“ für sie hilfreicher war. Damit tat sie sich den größten Gefallen und auch ich durfte damit etwas lernen.

Selbstmitgefühl zu praktizieren und zu lernen erlebe ich persönlich und auch für meine Klienten und Klientinnen als sehr hilfreich. Es ist für mich wie ein warmer Mantel, der sich um einen legt wenn wir etwas Schutz und Sicherheit brauchen. Vielleicht probieren Sie es auch einmal aus! Ich freue mich über Ihre Anfrage.

 

Herzliche Grüße Ihre Andrea Götte